Vor wenigen Wochen machte ich mich gemeinsam mit einer Freundin auf den Weg zu einem Vortrag über das Loslassen. Es war unser zweiter Anlauf, nachdem der geplante Abend im Herbst leider wegen Krankheit der Referentin ausgefallen war. Oftmals ist uns gar nicht bewusst, wie allgegenwärtig dieses Thema für jeden von uns ist und das sich niemand davor drücken kann.
Sprache für etwas finden, das uns so oft sprachlos macht, sich Zeit dafür nehmen, um wahrzunehmen und in sich hineinzuhören, Vertrautheit gewinnen, indem ich mir bewusst mache, dass ich an so vielen Stellen des täglichen Lebens bereits Meister im Loslassen bin und der Freiheit nachspüren, die damit einher gehen kann. Ja, loslassen bringt durchaus Gutes mit sich.
Es war ein inspirierender Abend, auch wenn inhaltlich gesehen keine wesentlichen Neuerkenntnisse für mich dabei waren. Dennoch wurde so manches in mir angestoßen oder in einem größeren Bild vernetzt. Wie bei so vielen Dingen im Leben so sind auch hier Achtsamkeit und Dankbarkeit sehr wohltuende Begleiter.
Die folgenden Zeilen von Martin Häberle hallen noch in mir nach…
„Los von mir – hin zu DIR“ ist ein Herzensgebet von mir. Loslassen ist ein wesentliches geistliches Thema für unser Leben. Alte „Räume“ verlassen und in neue hineingehen. Die Hände öffnen und die Sicherheiten, die ich festhalten will, loslassen, weil sie sowieso nicht tragen. Hingabe ist dann das Thema, Hingabe an Jesus, der schon im neuen „Raum“ steht, in den ich hineintreten soll. Im letzten Raum, wenn es ums Sterben geht, ist nur noch Jesus da. Und er sagt. Komm!

Vor wenigen Tagen saß ich mit eben dieser Freundin an unserem Esstisch und wir unterhielten uns über unseren Alltag. Nur wenige Stunden zuvor bäumte sich das Thema Abschied und Tod gänzlich unerwartet vor ihr auf, als ein Patient gemeinsam mit seiner Frau in ihrer Praxis saßen, er selbst schwerkrank, den Tod vor Augen und im Zuge dessen Schmerz und Trauer darüber in voller Präsenz gegenwärtig.
Ich erzählte ihr von den letzten Tage im Leben meiner Mutter, unseren zwei Begegnungen in ihrem Krankenzimmer und darüber, wie unwirklich vieles war, teils auch grotesk. Einzelne Dinge sind in meiner Erinnerung tief eingebrannt, als wäre es erst vor wenige Tagen passiert. Aber vieles wabert zugleich völlig im Nebel und ist nicht mehr greifbar für mich, unkenntlich geworden und unendlich weit weg.
Im Dezember jährte sich der Todestag meiner Mutter bereits zum 15. Mal! Ich muss nur meinen großgewachsenen Sohn ansehen – damals war er gerade mal ein Jahr alt. Ein kleiner Abenteurer und Wirbelwind, voller Energie, Entdeckerlust und Tatendrang. Es ist fast seine gesamte Lebenszeit, die wir ohne meine Mutter/seine Oma gelebt haben. Für ihn wird sie immer eine Unbekannte bleiben, über die er nur von Bildern und Erzählungen weiß, aber selbst keinerlei Erinnerungen mit ihr verknüpft. Für meine drei Mädels ist dies vermutlich nicht viel anders.
Wenn ich diesen jungen Mann anschaue, dann ist nicht von der Hand zu weisen, dass meine Mutter schon sehr lange Zeit nicht mehr bei uns ist! Was Joel in all den Jahren erlebt, gesehen, gelernt und gemeistert hat steht für mich in diesem Moment sinnbildlich für eine Fülle an Leben, in welchem meine Mutter keinen Anteil und auch keine Rolle mehr hatte.
Auch jetzt ploppen immer mal wieder diese Momente auf, wo meine Mama mir einfach fehlt! Teils sind es eher rationale Momente, teils aber auch sehr emotionale Augenblicke, wo mich der Schmerz über das, was verloren ist und nicht gelebt wurde übermannt, wo ich ihre Gegenwart vermisse. Wo ich die Traurigkeit körperlich spüre. Ich würde sie so gerne mal wieder sehen, hören, umarmen… einfach erleben.
In der vergangenen Woche hatte ich ein längeres Gespräch mit einer Mutter aus dem Kindergarten. Wir sehen uns nicht mehr so oft wie früher, da Ben seit geraumer Zeit eigenständig vom Kindergarten nach Hause kommt und es für uns Mütter folglich keine gemeinsame Abholzeit mehr gibt. Der Todestag ihrer Tochter hat sich Mitte Januar das zweite Mal gejährt. Als ich ihr beim Kinderturnen über den Weg gelaufen bin, habe ich das Gespräch mit ihr gesucht und mich danach erkundigt, wie die letzten Wochen für sie waren. Und sie hat erzählt.
Das ist Trauer und Loslassen in einer für mich unvorstellbaren Dimension und Reichweite… mir bleibt nur das offene Ohr und das mitfühlende Herz, soweit dies von meinem Stand aus überhaupt möglich ist.
Der trostlose Winter trägt seinen Teil dazu bei, denn wir sind unausweichlich von der Tatsache umschlossen, dass Dunkelheit, Sterben und Tod fester Teil des Lebensrhythmus sind und immer bleiben werden, solange es diese Erde gibt. Zeitweise kann diese ernüchternde Wahrheit wohltuend sein, viel häufiger beißt sie einem jedoch ungnädig ins Gesicht wie der eisige Ostwind.
„Der Weg heraus aus unseren Verlusten und Verletzungen ist der Weg hinein und hindurch. (…) Manchmal müssen wir uns selbst fragen, worin unsere Verluste eigentlich bestehen; was wir konkret verloren haben„, schreibt Henri Nouwen*.
Kann ich meine Verluste benennen und dadurch vielleicht erkennen, was ich überhaupt betrauere? Schaue ich wirklich hin oder stürze ich mich in Geschäftigkeit und Betriebsamkeit, um nicht wahrnehmen und vor allem nicht fühlen zu müssen?

Anfang Februar musste Ha-Dis Oma ins Krankenhaus, weil sie sich durch einen Sturz die Hüfte gebrochen hat. Sie hat schon in den Wochen davor sichtlich abgebaut und deutlich weniger gegessen. Durch ihre starke Demenz befindet sie sich bereits seit vielen Jahren im Prozess des Sterbens, denn von ihrer Person ist außer ihrer äußeren Hülle nicht mehr viel übrig geblieben. Ihre Persönlichkeit, ihre Lebensgeschichte, all die Erinnerungen, gelebten Beziehungen und Verbundenheiten sind Stück für Stück weggebrochen, mehr und mehr verschwommen und fast komplett ausgelöscht worden. Wie wenn man das Leben auf Rückwärtsgang stellt und der Film zurück zum Anfang läuft.
In die Welt kommen und aus ihr scheiden offenbart überraschend viele Parallelen. Wenn eine Geburt bevorsteht, wissen die Beteiligten meist nicht so genau, wann es tatsächlich los geht, wie lange dieser Prozess dauern wird und welche Täler man währenddessen möglicherweise durchwandern muss.
Und dann ist das Baby da, die Zeit verschwimmt und enthebt sich phasenweise ihrer Bedeutung. Man schwebt in einer neuen Welt, befindet sich in einer Art abgeschirmter Blase, in der andere Gesetzmäßigkeiten und Empfindsamkeiten zu gelten scheinen.
Mit dem Sterben ist das oft nicht anders. Manchmal geht es auf einen Schlag; Menschen werden gewaltsam aus dem Leben gerissen, möglicherweise viel zu früh, durch innere oder äußere Faktoren bedingt.
Für eine Vielzahl von Menschen ist das Sterben ein Weg, teils unübersichtlich, unbekannt, möglicherweise lang und steinig, oder trostlos und einsam, schmerzhaft, vielleicht ein zehrender Kampf gegen eine Krankheit mit Höhen und Tiefen, Hoffen und Bangen, Zuversicht und Mutlosigkeit, geprägt von Verzweiflung und Rebellion, umwoben von Gefühlschaos, einer Vielfalt an Emotionen oder auch an Leere und Taubheit.
Ha-Dis Oma scheint inzwischen auf ihrer letzten Wegstrecke angekommen zu sein. Nach der OP wurden viele Hebel in Bewegung gesetzt, dass sie so schnell wie möglich zurück in ihr vertrautes Zuhause verlegt wurde. Dort angekommen spiegelte sich in ihrem gesamten Wesen sichtlich Entspannung und Frieden wider; Ruhe kehrte ein.
Die Stunden sind ungewiss, die Tage unplanbar. Leben in einer Blase, wo Zeit und Raum verschwimmen und es die einzelnen Momente sind, die zählen, die friedvolle Gemeinschaft, vielleicht sogar ein zartes Lächeln.
Ihr 96. Geburtstag kam und ging, weitere Tage kommen und gehen. Sie isst und trinkt schon seit Anfang des Monats so gut wie nichts mehr, schläft die meiste Zeit, wird umsorgt, umbetet, umwacht.
Im letzten Raum, wenn es ums Sterben geht, ist nur noch Jesus da. Und er sagt. Komm!

*Henri Nouwen: Du schenkst mir Flügel. Gedanken der Hoffnung. Seite 21