
„Oma hat´s geschafft“
Diese schlichte Nachricht erreichte mich über WhatsApp, während ich gerade meinen zwei Jüngsten nacheilte, die vom Amazonas-Spielplatz aus weiter zu den Pelikanen und Seelöwen unterwegs waren. Seit Anfang Oktober waren wir nicht mehr im Zoo gewesen und die milden Temperaturen lockten uns an diesem Samstagmorgen, so dass wir uns endlich mal wieder auf den Weg in die Wilhelma gemacht haben.
Erleichterung und Dankbarkeit breiteten sich unmittelbar in mir aus, aber auch die Trauer suchte sich spürbar ihren Raum.
Seit Wochen hat uns Omas Sterben begleitet, auch wenn wir nicht vor Ort dabei waren. Regelmäßig haben wir uns erkundigt, waren durch Gebete und in unseren Gedanken verbunden.
Nebenbei zogen Erinnerungen an meinem inneren Auge vorüber. Da gibt es so manches, was wir zusammen erlebt haben: von gemeinsamen Weihnachtstagen im vollgestopften Häuschen in Mülheim, über Familientreffen im großen Garten mit viel leckerem Essen, Lachen, lauen Sommerabenden, eimerreicher Kirschgenuss, Kleiderbergen und naseweisen Hunden.
In unseren ersten Ehejahren waren wir mindestens zwei bis drei Mal im Jahr im Ruhrpott, meist im Sippenverbund mit Schwiegereltern, Geschwistern und Anhängen, weshalb es stets trubelig zuging. Ganz gleich, wie viele wir auch waren, irgendwie gab es immer Platz für alle und genug zu essen und das Gefühl, willkommen und daheim zu sein.
Für meinen Mann war das Haus der Großeltern tatsächlich einige Jahre lang sein Zuhause, da er in Mülheim seine Ausbildung absolviert hat. Schon in seiner Kindheit fand er immer wieder für längere Zeit unter diesem Dach Heimat, wenn seine Familie einen Deutschlandaufenthalt hatte.


Im Sommer 2006 zelebrierten wir im Garten der Großeltern mit einem gegrillten Spannferkel unseren Abschied. Damals machte sich in mir schleichend die Gewissheit breit, dass manch liebgewonnene Tradition von jetzt an nicht mehr zuverlässig gepflegt werden kann und künftig viele Feste im Kreis der Verwandtschaft ohne unser Beisein stattfinden werden.
Und so kam es auch.


Überraschenderweise begingen wir noch weiterhin so manches Fest im Beisein von Ha-Dis Großeltern, da sie uns mehrfach auf Sansibar besucht haben. Mit unserer Ausreise veränderten sich gewisse Traditionen folglich nicht nur für uns, sondern auch für den Rest der Sippschaft.
Direkt das erste Weihnachten in Afrika verbrachten wir damals im Beisein von Oma und Opa, da sie zu diesem Zeitpunkt für einige Monate bei uns gewohnt haben.
Opas großer Traum, mit seinem Enkel gemeinsam eine Autowerkstatt auf Sansibar aufzubauen, musste allerdings noch einige Jahre auf die Realisierung warten. Aber er hat in den Monaten bei uns an vielen Stellen Hand angelegt und einige Bauwerke auf unserem Grundstück hinterlassen.



Außerdem war Opa stets treusorgend zur Stelle, wenn mein Mann nicht im Land war. So hat er bei anhaltenden Stromausfällen, die es in den ersten Jahren leider noch sehr häufig gab, sogar mitten in der Nacht für eine Stunde oder so den alten Dieselgenerator angeworfen, damit die Kühl- und Gefrierschränke nicht zu lange ohne Strom auskommen mussten.
Wie oft saß ich mit Oma im Garten und während die zwei kleinen Mädchen um uns herum gespielt haben, philosophierten wir ausgiebig darüber, wie schön und wohltuend es nun wäre, wenn wir in einem deutschen Supermarkt einkaufen gehen könnten. Nicht erstrangig der Lebensmittel halber, sondern wegen der wunderbar großen Kühlregale, vor die wir uns gerne platziert hätten, um etwas Erfrischung zu finden… Diese heißen Monate haben uns beiden sehr zu schaffen gemacht!
Oma hat uns regelmäßig mit den leckersten Pfannkuchen der Welt verwöhnt und leider weiß ich bis heute nicht, was das Geheimnis ihrer perfekten Pfannkuchen ist. Sie waren so unbeschreiblich gut!

Auch ihre Gurke-Tomate-Ei-Platte mit frischem Dill aus unserem kleinen Gemüsegarten, den Opa mit viel Liebe angelegt und gepflegt hat, sind in bleibender Erinnerung geblieben, sowie die scharfen Bonbons (Minz-Schokolinsen) für die Kinder. Sie war generell oft mit Bonbons unterwegs, was ihre Beliebtheit bei den einheimischen Kindern zusätzlich enorm gefördert hat und ihr den Namen „Bibi pipi“ (Süßigkeiten Oma) bescherte.
Während Opa unermüdlich auf der Suche nach Arbeit in und ums Haus herum war – naja, viel suchen musste man damals nicht! -, half Oma bei Haushalt und Küche und verbrachte gerne Zeit mit den Kindern: Bücher vorlesen, Spiele spielen und wieder vorlesen.

Es war absolut faszinierend, wenn man Ha-Dis Großeltern im Umgang mit den Leuten vor Ort erlebt hat. Sie haben immer so geredet und agiert, als wären sprachliche und kulturelle Hürden überhaupt nicht vorhanden. Hätte man davon einen Stummfilm gedreht, wären die Zuschauer mit Sicherheit davon überzeugt gewesen, dass hier echte Kommunikation stattfindet. Vor allem Oma hatte die Gabe, die Herzen der Menschen, und ganz besonders die der Kinder, zu erobern. Wo auch immer sie hinkam, wurde sie herzlich in die Mitte genommen.
Nach knapp sechs gemeinsamen Monaten (drei davon mit Oma) flog Opa mit seinem Mädchen – wie er seine Frau oft liebevoll nannte – zurück nach Deutschland. Damals dachten wir alle, dass es ihre letzte Afrikareise war…
Da Ha-Dis Eltern drei Jahre nach uns nach Sansibar umgesiedelt sind, zog es auch seine Großeltern erneut mehrfach auf die Insel. In dieser Zeit hat eine kleine Gruppe gläubiger Massais die beiden regelrecht adoptiert. Obwohl sie überwiegend an der Ostküste lebten und arbeiteten, kam ein kleiner Teil von ihnen regelmäßig in die Stadt, um ihre Bibi zu besuchen, ihr Geschenke zu bringen und Zeit mit ihr zu verbringen.


So folgten im Lauf der Jahre noch weitere Weihnachts- und Geburtstagsfeste, die wir gemeinsam mit Eltern und Großeltern gefeiert haben. Und wenn nicht die Großeltern zu Gast waren, dann gab es Besuch von Ha-Dis Geschwister oder sonstigen Verwandten und Freunden.
Mein Strauß an Erinnerungen ist bunt und vielseitig: wie wir herzhaft über die Ketchup-Dusche gelachte haben, die Ha-Di seiner Oma an ihrem Geburtstag unbeabsichtigt bescherte, die unzähligen Strandausflüge mit Grilleinlagen, Badezeiten im warmen Meer, Opa auf Jagd mit der Harpune oder wie wir den Zanzibar Zoo ausgekundschaftet haben und dabei einen echten Mondfisch zu Gesicht bekamen (wenn auch nur ein toter).








Das letzte Bild steht sinnbildlich für die unzähligen Stunden, die diese beiden auf der Dachterrasse meiner Schwiegereltern mit Lesen, Ausruhen, Kniffeln, Reden und Feiern verbracht haben.
Ha-Dis Opa bekam tatsächlich noch die Gelegenheit, sich an einzelnen Stellen beim Werkstattbau einzubringen – bis eines Tages ein paar Leute von der Einreise- und Visabehörde auftauchten, und es ihm verboten haben. Ihre Begründung: der alte Mann nimmt den Einheimischen die Arbeit weg… wobei unsere treuen, einheimischen Mitarbeiter das kein bisschen so gesehen haben.

Ja, Erinnerungen, Bilder und Geschichten gibt es viele und unser Herz ist von Dankbarkeit erfüllt, dass wir all diese Momenten gemeinsam erlebt und einen Teil unseres Lebensweges zusammen gestaltet und zurückgelegt haben.
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Ende Februar fuhren wir in reduzierter Form ins Ruhrgebiet, um bei Omas letzter Wegstrecke hier auf Erden dabei zu sein. Für Benjamin und Josia war es die erste Beerdigung. Die beiden haben gut mitgemacht, auch wenn davor und danach einiges an Quatschmachen von ihrer Seite aus dabei war. Aber während der Veranstaltung selbst saß Josia brav neben seiner Bibi und legte fürsorglich seinen Arm um sie.
Es war eine sehr persönliche und schöne Aussegnung, die komplett von den Geschwistern und Ha-Dis Vater durchgeführt wurde. Besonders bewegend war der Lebenslauf, der von Ha-Dis Schwestern anhand von Omas Aufschrieben zusammengestellt wurde. Es war so, wie wenn sie uns selbst kleine Einblicke in ihre Lebensgeschichte ermöglicht, angefangen von den eisigen Umständen rund um ihre Geburt, manch herausfordernden Erlebnissen in der Kriegszeit und dem Kennenlernen von Opa.
Beim abschließenden Mittagsimbiss wurden noch Fotos gezeigt und kleine Anekdoten ausgetauscht. Wir hatten eine sehr herzliche Zeit zusammen und einige Stunden später ging es für uns wieder zurück nach Hause.



