Der „Fluch“ des Vergessens

Ich lese wirklich gerne. Zwar war ich noch nie die klassische Leseratte, die sich stundenlang in ihrem Zimmer verkrümelt und dort zwischen den Buchdeckeln gänzlich versinkt. Und ich habe auch nur sehr wenige Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur gelesen beziehungsweise eben solche von meinen Eltern vorgelesen bekommen. Zumindest kann ich mich an solche Vorlesestunden nicht wirklich erinnern.

Früher war lesen für mich reine Zeitverschwendung! Wenn man liest, dann schafft man ja nichts. Es kommt nichts dabei heraus, was man anfassen oder messen kann oder so. Vermutlich war das einer der Hauptgründe, weshalb ich als Kind und Jugendliche kaum Bücher gelesen haben.

In der Teenie-Zeit hat sich das ein bisschen geändert. Ich hatte immer wieder so Lese-Phasen, in denen ich ein Buch nach dem anderen verschlungen habe. Da ich nicht zu den schnellen Lesern zähle, trifft der Begriff „verschlungen“ nicht so ganz zu. Aber ich habe wirklich einige kürzere Romane gelesen, ein paar simple Liebesschnulzen, gemischt mit christliche Biographien (also die etwas spannenderen, die es speziell für diese Altersgruppe gibt und die auch relativ dünn sind) und den ein oder anderen Klassiker – dies aber meist nur im schulischen Zusammenhang.

Damals habe ich nicht nur festgestellt, das Lesen spannend und ein guter Zeitfüller ist, sondern dass es sich unmittelbar auf meine Rechtschreibung auswirkt. Denn diese wurde genau zu der Zeit merklich besser. Aber vielleicht war das ja auch nur Zufall 🙂

Zwischen meinem Abitur und dem Beginn meines Lehramtstudiums ergab sich ganz ungeplant eine Auszeit von einigen Monaten. Grund dafür war, dass ich mal wieder relativ kurzfristig meine Lebensplanung umgeworfen hatte. Ich wusste ja sehr lange Zeit überhaupt nicht, was ich mal beruflich machen soll. Es gab so viele Dinge, die ich interessant gefunden und die mich gereizt hätten. Aber irgendwie gab es auch ebensoviele Hürden und ich fühlte mich im Wald der unendlichen Möglichkeiten gänzlich verloren und vereinsamt. Auch von Seiten der Familie und Freunde gab es keine klaren Hinweise.

Meine Eltern haben sich beim Thema Berufswahl extrem zurück gehalten, was ich irgendwie ein bisschen schade fand. Schließlich kennen sie mich mein ganzes Leben lang und hätten damit durchaus gewisse Vorstellungen entwickeln können, was zu mir passen könnte und was eben nicht. Aber meine Mutter hatte in ihrer Jugend genau das andere Extrem erlebt. Sie bekam von ihrem Vater unmissverständlich gesagt, welche Ausbildung sie machen soll. Es wurde absolut keine Rücksicht auf ihre Wünsche und Interessen genommen, sondern nur nach dem geschaut, was für sie als Familie nun eben am besten passt.

Bei meinem Vater lief es nicht ganz so krass. Für ihn stand nur fest, dass er nicht den Bauernhof seiner Eltern übernehmen möchte, obwohl er der Ältere war. Aber darüber hinaus wurde das Thema Beruf vermutlich nie groß innerhalb der Familie thematisiert.

Nun ja, zurück zu mir.

Das Abi kam und ich war hinsichtlich meiner Zukunft nicht wirklich schlauer, als das drei Jahre zuvor nach dem Realschulabschluss der Fall war. Damals konnte ich eben einfach auf die weiterführende Schule gehen und auf diese Weise noch etwas Zeit gewinnen. Aber ich bin die meiste Zeit auch wirklich gerne zur Schule gegangen; somit hat das schon gut gepasst für mich.

Ich war mehrfach bei der Berufsberatung, habe gewisse Tests gemacht und mir auch das ein oder andere Studium bzw. die ein oder andere Ausbildungsmöglichkeit etwas genauer angeschaut. Vieles davon hätte mich tatsächlich interessiert. Aber mal war es die Länge des Studiums, dann die voraussichtlichen Arbeitszeiten oder das gesamte Arbeitsumfeld, weshalb ich mich nicht für diese Sache entscheiden konnte.

Irgendwann reifte die Idee, dass ich Architektur studiere könnte, mit dem späteren Schwerpunkt  Städte- und Raumplanung. Für das Studium war ein Bau- und Betriebspraktikum verpflichtend. Und so habe ich mich für einen Praktikumsplatz im Baugewerbe beworben. Das ging alles sehr zügig und problemlos und ich stand ab September für 10 Wochen mitten auf einer Großbaustelle in Leonberg.

Auch heute noch denke ich sehr gerne an diese Wochen zurück. Es war eine sehr lehrreiche und eindrückliche Zeit für mich, die mir durchaus Freude gemacht hat. Nur die letzten Wochen waren echt hart, weil es extrem kalt und nass wurde. Somit habe ich die volle Palette von den letzten schwülheißen Sommertagen, über Dauerregen bis hin zum Arbeiten bei frostigen Temperaturen hautnah erlebt.

Nach dem Bau ging es ins Architekturbüro. Und genau dort wurde mir schon nach wenigen Wochen bewusst, dass ich mir diese Arbeit auf Dauer nicht vorstellen kann. Also habe ich mein Praktikum abgebrochen und mich neu orientiert. Warum es dann zum Lehramt kam, weiß ich gar nicht mehr so genau.

Bis zum Beginn des Sommersemesters blieben mir also noch etliche Wochen. Ich habe mir für diese Zeit keinen Nebenjob gesucht, sondern einfach mal Pause gemacht. Klar gab es in meinem Elternhaus weiterhin genug für mich zu tun. Aber ganz ohne Schule und sonstigen beruflichen Verpflichtungen blieb durchaus einiges an Zeit, die ich neben kreativ sein und Freundschaftspflege auch zum Lesen genutzt habe.

Das war die Zeit, in der ich den Zugang zu Sachbüchern fand. Wenn man Sachbücher liest, dann lernt man zugleich ja auch was. Somit konnte ich mit „gutem Gewissen“ viel Zeit ins Lesen investieren. Ich habe Ratgeber und jede Menge psychologische Bücher gewälzt – und zugleich auch sehr viel nachgedacht… über mich, meine Art, meine Kindheit, das Leben und den Sinn dahinter usw.

Im Studium blieb dafür nicht mehr so viel Zeit, denn nun bestimmten diverse Literaturlisten meinen Lesestoff. Auch da gab es viel Spannendes, aber auch extrem trockene Kost.

Heutzutage ist meine Lesezeit recht begrenzt. Aber ich lese noch immer sehr gerne. Für mich ist es ein Weg, um neue Gedanken und Impulse in meinen Kopf zu bekommen. Und deshalb ist es mir wichtig, dass ich mich neben purer Unterhaltung auch mit guter Kost füttere. Ausgewählte Zeitschriften zählen für mich z.B. dazu, denn für richtige Sachbücher fehlt mir inzwischen doch meist der lange Atem. Wenn ich etwas Zerstreuung vom Alltag suche, lese ich gerne mal in den ein oder anderen Blog rein. Und hin und wieder gibt es Phasen, in denen ich mir sogar einen Roman vornehme.

Und so stolperte ich kürzlich über die folgenden Zeilen in einem kleinen, sehr wertvollen Büchlein:

„Dietrich Bonhoeffer, der Dankbarkeit trotz schlimmster Umstände kultivierte, sagte einmal:

Undankbarkeit beginnt mit dem Vergessen. Aus Vergessen folgt Gleichgültigkeit, aus der Gleichgültigkeit Unzufriedenheit, aus der Unzufriedenheit Verzweiflung, aus der Verzweiflung der Fluch.

Ich will nicht vergessen. Und deshalb schreibe ich. Als Widerstand gegen den Feind, der mir einflüstern will, dass Gott es nicht gut mit mir meint. Als Beweisaufnahme für die vielen Spuren, die Gott in meinem Leben hinterlässt, auch an meinen schwachen Tagen. Als Gebet, das mein Herz wieder in Ordnung bringt.“ *

Während ich diese Zeilen las, nickte ich innerlich zustimmend.

Auch ich will nicht vergessen!

Das ist vermutlich auch ein Grund dafür, warum mir das Bloggen so wichtig ist. Es ist immerhin ein kleiner Versuch, das Leben dem Vergessen zu entreißen. Ich versuche, Erinnerungen festzuhalten, damit vor allem meine Kinder ein kleines „Erbe“ erhalten…

Das Schreiben selbst habe ich schon sehr früh für mich entdeckt. Lange Zeit aber auch wirklich nur für mich! Ich war 12 oder 13, als ich mein erstes, kleines Tagebuch geschenkt bekommen habe. Anfangs war das Schreiben noch ziemlich holprig und irgendwie gestellt. Aber nach und nach wurde es ganz natürlich für mich – vermutlich gerade deshalb, weil ich wusste, dass ich nur für mich schreibe und somit kein Mensch über Rechtschreibung, Satzbau oder Ausdruck stolpern muss oder sich über den Sinn bzw. oftmals auch Unsinn meiner Texte den Kopf zerbrechen konnte. Ein Schreiben frei von jeglicher Zensur und Rückmeldung 🙂

Mit der Zeit kam ich dann auch zum Briefe schreiben. Briefe an meine Freundinnen, meine jüngere Schwester und an meine Mutter. Die direkte Auseinandersetzung und Mitteilung war nicht so mein Ding. Ich kann nicht genau sagen, warum das so war. Aber selbst guten Freunden gegenüber fiel es mir lange Zeit extrem schwer, mich ganz zu öffnen und von dem zu erzählen, was ich denke und fühle.

Beim Schreiben war dies irgendwie anders. Hier konnte ich in Ruhe und ganz für mich meine Gedanken zu Papier bringen, ohne von den Rückmeldungen meines Gegenübers abgelenkt oder beeinflusst zu werden. Ich konnte Dinge ansprechen, für die mir im Gespräch schlichtweg die passenden Worte gefehlt haben. Und es kam häufig vor, dass mir selbst erst durch das Schreiben Zusammenhänge klarer geworden sind.

Eine gute Freundin von mir hat einst sehr treffend gesagt: „Nur wer Briefe von dir bekommt, der kennt dich wirklich.“

Inzwischen ist das nicht mehr ganz so extrem und ich habe mich, wie in vielen anderen Bereichen, auch bezüglich der Kommunikationsfähigkeit etwas weiterentwickelt 🙂 Außerdem schreibe ich bei weitem nicht mehr so viel und ausführlich, wie das in meinen jugendlichen Jahren der Fall gewesen ist.

Aber immer mal wieder nehme ich mir Zeit dafür – es tut gut und ist wichtig für mich.

*aus: Veronika Smoor: Heiliger Alltag; S. 167

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.