Es begab sich vor einem Jahr…

Ich lese einen Artikel und stolpere dabei über einen Satz: >Trauma kann man verkürzt definieren als „Maß an Ausgeliefertsein“, als Mischung aus Hilflosigkeit und Machtlosigkeit. Nicht kämpfen und nicht flüchten können.<*

Plötzlich bin ich nicht mehr beim Inhalt des Artikels, sondern die einzelnen Worte hallen in mir nach. Erinnerungen werden wach, Bilder, Momente, Gefühle, Gedanken… und ich spüre allem voran genau diese zwei Dinge HILFLOSIGKEIT und MACHTLOSIGKEIT.

Ich kann aktiv nichts tun, um die Situation zu verändern, sie zumindest ein ganz kleines bisschen zu beeinflussen. Ich kann zwar meine Augen schließen, aber dadurch ist sie nicht weg.

Ich kann die Zeit weder vor noch zurück drehen – sie tickt gefühlt ganz laut, wie ein Hammer, der im Sekundentakt niederschnellt, dumpf, unaufhaltsam und zugleich völlig teilnahmslos…

Etwas in mir will die Zeit anhalten, weil sich allein der Gedanke daran so anfühlt, als würde die Last des Augenblicks genau in diesem Moment auch eine Pause machen, als würde ich endlich mal wieder richtig tief und frei atmen können…

Vor genau einem Jahr begann dieser Alptraum. Schon ganz früh am Morgen wanderten meine Gedanken zurück zu diesem Tag, an dem sich die Ereignisse überschlagen haben, an dem die Wellen der Erschütterung ohne richtige Vorankündigung über uns herein gebrochen sind und wir zeitweise völliger Orientierungslosigkeit ausgeliefert waren.

Als ich heute Vormittag alleine auf dem Sofa im Wohnzimmer saß war alles wieder da, wie wenn ich einen vertrauten Film abspielen würde. Ha-Di und ich im Auto, gemeinsam unterwegs mit Josia zu seinem Termin in der Nähe von Nürnberg. Wir hatten den Landkreis Ludwigsburg noch nicht mal verlassen, als der Anruf vom Krankenhaus kam. Die Nachricht von Annelies Krampfanfall, von den notwendigen Untersuchungsschritten, von unserem Einverständnis… Fragen, Sorgen, Ängste… das Verlangen, auf der Stelle kehrt zu machen und zurück zu fahren…

Sehnsüchtiges Warten auf mehr Information und zugleich die unaussprechlich große Angst davor – denn wer weiß, was für Informationen uns erreichen würden?!

Die Stunden vergingen, wir sind von Therapeut zu Therapeut, Josia hat super mitgemacht und Ha-Di war die ganze Zeit nur körperlich anwesend. Der Rest von ihm war bei seiner Tochter im Krankenhaus.

Ich hatte so große Angst davor, meine Tochter wieder zu sehen. Und zugleich wollte ich unbedingt und auf der Stelle bei ihr sein, an ihrem Bett, ihre zarten Händchen festhalten, sie schützen…

Tiefe Dankbarkeit erfüllt mich am heutigen Tag! Da hüpft und tanzt sie durch die Gegend, unsere Annelie, voller Energie und Lebensfreude. Und wenn ich sie dabei betrachte, dann ist da rein gar nichts, was auf diese schwere Krankheitszeit vor einem Jahr hinweist. Was für ein wunderbares Geschenk!

Annelie

Durch mein Gedächtnis zieht sich ein dicker Strang an Gefühlen, Erinnerungen und Bilder. Ein kleiner Teil davon kam heute hier zum Vorschein…

 

*aus: Die Abrissbirne in unserer Biografie, von Christof Lenzen; Aufatmen 1/2015

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