Die mit Tränen säen

Genau ein Jahr ist es inzwischen her, als ich beim Frauenarzt nach der Ultraschalluntersuchung in etwa folgendes gesagt bekommen haben: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Die Nackenfalte ist auffällig vergrößert, was ein Hinweis für eine Chromosomenabnormalie sein kann. Um diesbezüglich genaueres zu wissen, müsste nun eine Chorionzottenbiopsie oder eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt werden…“

Ich hatte mich während der U-Schalluntersuchung bereits gewundert, warum diesmal alles so genau ausgemessen wird. Aus bisheriger Erfahrung wusste ich, dass in diesem frühen Stadium (12.SSW) nur die Schädelsteißlänge gemessen wird, und nicht noch die Länge des Oberschenkelknochens, der Bauch- und Kopfumfang. All das wird in der Regel ja erst bei späteren Untersuchungen gemacht.

Da unsere Zeit auf deutschem Boden nur noch begrenzt war (6 Tage), stand für mich eigentlich nur die Wahl zwischen gar keiner Zusatzuntersuchung oder der Entnahme von Plazentagewebe, wozu mir mein Arzt stark geraten hat. Er könne für mich bereits einen Termin am nächsten Tag organisieren, wenn ich diese Untersuchung machen lassen will. Und die Untersuchungsergebnisse hätten wir dann in drei Tagen.

Ich wollte erst mal einfach nur nach Hause und mit Ha-Di reden…

Ha-Di hat dann direkt ziemlich viel im Internet recherchiert und sich über den Befund und die Aussagekraft eines solchen Befundes informiert, ebenso wie über die angeratene Untersuchung. Für ihn stand direkt fest, dass wir keine Zusatzuntersuchung machen werden. Wozu auch, denn für uns beide war klar, dass uns das Ergebnis dieser Untersuchung nicht dazu gebracht hätte, dieses Kind abzutreiben. Außerdem stehen die statistischen Chancen höher, dass dieses Kind aufgrund der Untersuchung abgehen oder geschädigt werden könnte, als das es wegen der vergrößerten Nackenfalte tatsächlich eine Behinderung hat.

Für mich war im ersten Moment einfach der Wunsch da, sicher zu wissen, ob das Kind gesund ist oder nicht… denn jeden Tag für die kommenden sechseinhalb Monate mit der Ungewissheit und der Frage zu leben, erschien mir in diesem Augenblick absolut unerträglich!

Am Abend hat mein Frauenarzt nochmals bei uns angerufen, um sich nach unserer Entscheidung zu erkundigen. Wir haben abgesagt und bekamen von ihm daraufhin noch den Rat, dass wir mindestens alle 8 Wochen zur Ultraschalluntersuchung gehen sollten. Oftmals zeigen sich da schon weitere Auffälligkeiten in der Entwicklung bezüglich der Größe und auch in Hinblick auf die inneren Organe.

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U-schallbild mit der verdickten Nackenfalte und in 3-D/12.SSW

Da zieht aus heiterem Himmel eine dunkle, schwere Wolke auf und legt sich mit aller Gewalt über meine Seele, erdrückt mich fast und nimmt mir die Luft zum Atmen. Wo ist die Sonne? Wo ist das Licht und wie kann ich in all der Dunkelheit und Schwere den Weg finden, den ich gehen soll? Die Gedanken drehen sich im Kreis; so viele Fragen und keine Antwort.

Wo ist der feste Boden, wo finde ich Halt… ?

Wie gut, dass ich alles vor Gott ausschütten kann. Und genau das haben wir getan. Nicht nur in diesen ersten Tagen, sondern während der ganzen Schwangerschaft und auch noch nach der Geburt.

An unserem letzten Sonntag in Deutschland saß ich im Gottesdienst und habe aufmerksam der Predigt über Jericho zugehört. Dicke Mauern, unüberwindbar; eine Aufgabe, die nach menschlichem Ermessen gar nicht zu schaffen ist. Was sind meine Mauern???

Ich wusste in diesem Moment sehr genau, was meine Mauern sind. Immer wieder kam dieser Satz, er hämmerte regelrecht in meinem Kopf: Dieses Kind ist krank! Dieses Kind ist krank! Dieses Kind ist behindert…

Ich habe nie daran gezweifelt, dass Gott die ganze Situation in seiner Hand hat. Mir war klar, dass er genau weiß, was wirklich mit diesem Kind ist. Und ich wusste auch, dass er heilt. Gleichzeitig war mir aber auch von Anfang an völlig bewusst, dass seine Wege oftmals nicht unseren Vorstellungen entsprechen, dass er souverän ist und das nicht immer alles genau so läuft, wie wir es uns erhoffen, wünschen und erbeten.

In den kommenden Wochen habe ich die Schwangerschaft und alles, was damit zu tun hatte, sehr stark verdrängt. Wenn wirklich eine größere Schädigung vorliegen sollte, dann könnte es immer noch zu einer Fehlgeburt kommen. Und innerlich hatte ich genau dafür gebetet, dass dieses Kind doch lieber jetzt schon sterben soll, und nicht erst kurz vor der Geburt – oder noch schlimmer, wenige Tage danach (wie es in der Regel bei Trisomie 18 der Fall ist).

Einerseits habe ich total verdrängt und somit auch nicht offen über die Schwangerschaft in unserem Umfeld geredet. Andererseits habe ich sehr genau die Veränderungen in meinem Körper beobachtet: wächst der Bauch, kann ich das Baby eventuell spüren usw.

Ich war sehr dankbar, dass ich nicht die ganze Zeit unter dieser starken inneren Anspannung und Unruhe gelitten haben, wie das in den ersten Tagen nach dem Befund der Fall war. Denn das war eine echte innere Zerreißprobe und sowohl psychisch als auch physisch total anstrengend. Fragen, Sorgen und auch Angst vor dem, was die Zukunft bringen könnte, der Blick auf meine eigene Unfähigkeit und dieses schreckliche Gefühl der Ohnmacht…

Ich habe einem befreundeten Ehepaar ganz offen von unserer Situation geschrieben, da sie selbst vor ein paar Jahren in einer vergleichbaren Lage waren. Der Austausch tat gut und es war ermutigend zu lesen, wie es damals bei ihnen war und zu erfahren, dass meine Gedanken und Gefühle nicht abwegig, sondern ziemlich normal sind und es außer mir andere gibt, die genauso gedacht, gefühlt und gebetet hatten, wie wir es derzeit tun.

Ihr Wunderkind ist ganz gesund, auch wenn äußerlich gesehen während der Schwangerschaft und nach der Geburt alles dafür gesprochen hat, dass dieses Mädchen unter dem Turner-Syndrom leidet.

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Josia/21.SSW

Mitte November sind wir dann nach Dar zur nächsten Ultraschalluntersuchung – ein Termin, der mir schwer im Bauch lag.

Was würden wir sehen?

Würden sich die Sorgen vermehren oder wird vielleicht doch alles normal und unauffällig sein?

Die Ärztin hat sehr lang und sorgfältig geschallt und nach allen möglichen Anzeichen gesucht. Unser Kleiner war total unruhig und ständig am abhauen, so dass die Untersuchung gute 45min gedauert hat. Am Ende stand fest, dass wir einen Sohn bekommen werden, der aktuell völlig zeitgerecht entwickelt ist und keine besonderen Auffälligkeiten zeigt. Nur sein Nacken war noch immer dicker, was zu diesem Zeitpunkt aber nicht als besonderer Indikator gerechnet wird.

Wir waren dankbar und erleichtert; und dennoch habe ich weiterhin regelmäßig für die Gesundheit und Entwicklung unseres Kleinen gebetet.

Auch die zweite Ultraschalluntersuchung Mitte Januar verlief vergleichbar und brachte keine weiteren Sorgensteine dazu. Die Ärztin hat klar gesagt, dass für sie äußerlich gesehen nichts dafür spricht, dass dieses Kind Down-Syndrom hat. Und auch organisch konnte sie keine Auffälligkeiten erkennen. Aber völlig ausschließen kann sie es nur aufgrund von Ultraschalluntersuchungen natürlich nicht.

Die letzte Sicherheit und Gewissheit würden wir folglich erst dann haben, wenn das Kind geboren ist. Ich weiß nicht, ob ich generell eher pessimistisch veranlagt bin, aber in meinem Kopf war trotz der sehr geringen Wahrscheinlichkeit noch immer diese Bremse und keine endgültige Entwarnung bezüglich des Gesundheitszustandes unseres Kleinen.

Tagebucheintrag vom 29.01.13:

>In den vergangenen Tagen habe ich mir auch wieder mehr Gedanken über unser Baby gemacht. Es war nun echt lange Zeit gut. Sorgen und Fragen kamen nur selten mal auf und meist war ich ruhig und gelassen. Aber in den vergangenen Tagen kam es recht massiv über mich. Es kann ja auch wirklich viel sein mit dem Kleinen. Man hört von den sonderbarsten Krankheiten und Störungen. Was ist, wenn der Kleine tatsächlich bei der Geburt oder kurz danach sterben muss? Ich spüre, wie ich innerlich immer noch sehr auf Distanz bin dem Kind gegenüber, weil ich einfach Angst habe, es eh nicht lange zu haben. Es tut mir so leid für den Kleinen, dass ich so wenig Bezug bisher zu ihm aufgebaut habe…<

Tagebucheintrag vom 07.02.2013:

>Ich fühle mich unsicher. Und irgendwie will ich dann einfach weiterhin die Augen verschließen und die Antwort gar nicht wissen. Klar kann es ein großes Aufatmen geben, wenn alles normal ist und der Kleine ganz gesund. Aber ich kann eben auch unausweichlich vor die Tatsache gestellt werden, dass er eben doch krank oder behindert ist. Diese Option ist nicht vom Tisch und wird es auch bis zur Geburt nicht sein. Und immer wieder kommt es hoch: Ich will aber kein krankes Kind! Es ist und bleibt ein Spannungsfeld.<

Diese Spannung war bis zum Schluss vorhanden, auch wenn es von der Intensität her nicht immer gleich stark war; und dann sogar noch nach der Geburt des Kleinen.

Mein Arzt in Deutschland war mit allen Ergebnissen zufrieden und hat direkt gesagt, dass alles gut und unauffällig aussieht und damit nichts gegen eine ganz normale Geburt sprechen würde. Und die kam dann ja auch… viel schneller, als erwartet (mehr dazu HIER)!

a-josia-nach-geburt.jpg                                   Josia am Tag seiner Geburt

Da lag er nun in meinen Armen, klein, zart, hilflos. Tränen der Erleichterung und Freude, über dieses neue Leben in meinem Arm… aber weiterhin durchmischt mit Fragen, Trauer, Schmerz und Sorgen, Tränen der Angst und Traurigkeit – Angst vor dem, was kommen könnte, Trauer über das, was verloren zu sein scheint, nämlich die Hoffnung auf ein „normales“ Leben.

Ich fühlte mich einerseits überrumpelt, weil eben alles so schnell ging. Und es war schwer, dass Ha-Di nicht dabei sein konnte. Gerade jetzt, wo weiterhin noch so viele Fragen im Raum standen war er weit, weit weg und wir konnten nicht so ohne weiteres miteinander reden, uns gemeinsam stützen, aneinander anlehnen und miteinander weinen…

Tagebucheintrag vom 23.03.2013 (Tag der Geburt):

>Wir haben weiterhin keine volle Klarheit über Josias Gesundheitszustand. Etliche Symptome und auch das Aussehen von Josia sprechen für das Down-Syndrom. Somit wird wohl nur der Chromosomentest endgültige Klarheit bringen. Ich will immer noch kein Down-Kind! Aber umtauschen geht nicht. So viele Gebete, viele Zusagen, so ein geringes Risiko… und dennoch behindert? Ist gerade alles etwas viel für mich…<

Auszüge vom Aufschrieb während meiner Stillen Zeit am 24.03.2013 – ich hatte an diesem Morgen Psalm 126 gelesen:

>Und was ist nun mit unserem Josia? Erhörst Du auch unsere Gebete? Von Anfang an waren da so viele Gebete. Und so viele Menschen, die davon überzeugt waren, dass Josia ganz gesund sein wird. Ist er ganz gesund? Was soll ich beten, was glauben…? Alles ist DIR möglich! Aber manchmal sind Deine Wege und Pläne eben anders. Waren deshalb alle Gebete umsonst?

DIE MIT TRÄNEN SÄEN, WERDEN MIT FREUDEN ERNTEN. Ja, es gab schon so viele Tränen in der Schwangerschaft und auch in den vergangenen 24h. Ich nehme diese Verheißung heute erneut für uns in Anspruch, auch wenn es ganz offen ist, wie diese Freude aussehen mag. Vielleicht bist Du gnädig und tust dieses Wunder und unser Josia ist wirklich „der Geheilte“! Und selbst wenn nicht, weiß ich, dass Du unsere Tränen in Freude verwandeln wirst. Du bist ein Gott der Wunder tut, ein Gott, der heilt – auch heute, hier und jetzt. Wie viele „Samen“ ich in den vergangenen 7 Monaten bereits gesät habe… und aktuell säe… Und wir beten weiter für das kleine Wunder Josia! Mache Du ihn ganz gesund!<

Wenige Tage später hatten wir das Ergebnis dann auf dem Papier.

Es sind noch viele Tränen geflossen und es gibt auch jetzt immer mal wieder Momente, in denen sie fließen.

Eine Freundin hat es sehr treffend in ihrer email ans uns formuliert: „die Trauer und der Schmerz über den Verlust der Normalität“.

Immer wieder kam dieser Schmerz wie eine dunkle Wolke über mich, kam in mein Zimmer gekrochen und erfüllte den Raum, nahm mir die Luft zum Atmen, die Freude über dieses kleine Wunder. Alles sah dann nur noch traurig, trostlos und dunkel aus. Es waren krasse Momente, die immer wieder kamen – und zum Glück dann auch wieder gingen. Es flossen viele Tränen in diesen ersten Tagen nach der Geburt von Josia.

Wir haben eine wunderschöne, einmalige Rosenblüte geschenkt bekommen, ABER neben aller Schönheit und allem Liebreiz waren da von Anfang an die starken Dornen zu spüren, die diese Rose mit sich bringt. Wenn man sie fest umschließt, hält und schützen möchte bohren sich gleichzeitig, unausweichlich die Dornen in die Hand.

Lasse ich deshalb los?

Will ich dieses Geschenk, nur weil es weh tut, nicht mehr liebevoll festhalten und lieben?

Ich hatte oft Momente in denen ich dachte: Wie schön diese Rose eventuell auch sein mag, und was auch immer sich da noch an Schönheit entfalten wird, was wir aktuell eben noch gar nicht sehen, noch nicht mal erahnen und erträumen können… Das ist mir alles egal, ich WILL SIE NICHT!!! Ich will viel lieber die einfache Butterblume, die ich kenne, ohne Schmerz…

Unser kleines Wunder ist inzwischen fast ein halbes Jahr alt und wir sind so dankbar, ihn zu haben. Er bringt so viel Freude, Lachen und eine besondere Art von Gelassenheit in unsere Familie. Wir lieben ihn alle sehr!

Der Schmerz ist trotzdem nicht vollständig verflogen – und vermutlich wird er es auch nie sein. Er gehört zu unserem Leben dazu. Und ganz unerwartet taucht er in manchen Momenten auf, z.B. wenn ich Josia betrachte und er mich mit diesem für Down-Syndrom-Kinder typischen Gesicht anschaut.

Dornen in meinen Händen…

Ebenso sind uns Unsicherheit und Ungewissheit erhalten geblieben, da das Down-Syndrom ein so vielseitiges Erscheinungs- und Ausprägungsbild hat, dass wir weiterhin nicht wissen, was genau die Zukunft für uns mit sich bringen wird, wo sich Einschränkung und Andersartigkeit bei Josia bemerkbar machen werden und welche Hürden, Steine und Vorurteile uns durch andere in den Weg gelegt bzw entgegengebracht werden.

Dennoch drücke ich unseren kleinen Schatz ganz fest an mein Herz, liebe ihn, genauso wie er ist, sein Lachen, sein Erzählen, sein Festhalten, sein ganzes Wesen und seine herzliche Art. Und nur weil es sich auf den ersten Blick nicht offensichtlich nach einem Segen aus Gottes Hand anfühlt, darf daraufhin nicht automatisch die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es keiner sein könnte oder am Ende doch irgendwas aus dem Ruder gelaufen ist.

Nein, das ist es ganz sicher nicht!

Folgendes Zitat habe ich vor kurzem gelesen und damit möchte ich diesen langen Eintrag beenden; der Beginn einer spannenden Geschichte mit und über unseren besonderen Sohn:

„If HE does not give me the miracle, HE is going to make me the miracle for someone else.“

Nick Vujicic

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