Die Zeit steht still

Der letzte Atemzug. Stille. Eine Hand auf dem Zifferblatt, das Ticken verstummt…

Eine kleine Geste, ein alter Brauch von unschätzbarer Tiefe, der in der heutigen Zeit vermutlich nur noch selten praktiziert wird.

Wenn ein geliebter Mensch diese Erde verlässt, dann bleibt in diesem Moment irgendwie tatsächlich die Zeit stehen. Zumindest für all jene, die nun unausweichlich Abschied nehmen und loslassen müssen.

Für mich ist es an diesem Freitag so, dass die Zeit ein klein wenig stehen geblieben ist. Der Alltag plätschert zwar weiter vor sich hin, aber meine Gedanken sind eher rück- als vorwärts unterwegs. Viele Begegnungen, Erlebnisse und Bilder tauchen wie kurze Blitzlichter vor mir auf und ich pflücke mir meinen imaginären Strauß an schönen Erinnerungen, an Momente des geteilten Lebens mit meiner Oma, die heute Nacht ihre Augen für immer geschlossen hat.

In den vergangenen Monaten haben wir uns leider nur noch selten gesehen. Auch in der Zeit vor Corona war es nicht immer einfach mit dem Besuchen, weil ich meist die zwei kleinen Jungs im Schlepptau hatte. Aber sie haben die Ausflüge ins Altenheim durchaus geliebt, was vermutlich in erster Linie am kleinen IPod lag, den Josia während der Besuchszeit haben durfte. Und am Aufzug, denn Aufzugfahren zählt zu Josias Lieblingsbeschäftigungen.

Im letzten Jahr schrumpften die eh schon seltenen Besuche nochmals stark zusammen und fanden wenn nur unter erschwerten Bedingungen statt. Vor allem die kleinen Kinder durften nicht mehr ins Heim rein: Dabei haben gerade sie mit ihrer Lebhaftigkeit und Unbedarftheit den alten Menschen oft viel Freude gebracht.

Also mussten neue Wege her. Und so habe ich es mir zum Ziel gesetzt, meiner Oma wenigstens immer wieder einen Brief zu schreiben. Manchmal habe ich einige Seiten mit Fotos aus unserem Alltag beigelegt, damit sie auch was zum Anschauen hat. Wie viel sie davon wirklich noch aufnehmen und verstehen konnte, weiß ich nicht, denn die altersbedingte Vergesslichkeit wurde auch bei ihr zunehmend mehr.

Ich bin sehr dankbar, dass sie mich selbst mit der Maske noch bis zum Schluss, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, erkannt hat. Aber die Unterhaltung wurde durch diese zusätzliche Barriere wirklich extrem erschwert. Sie war zwar nicht schwerhörig, aber der Satz: „was hast du gesagt? Ich versteh dich nicht.“ kam in Dauerschleife. Eine richtige Unterhaltung mit ihr zu führen, war aufgrund ihrer Vergesslichkeit davor schon manchmal nicht leicht, aber nun nahezu unmöglich.

Jetzt wird es keine Besuche mehr geben. Und auch keine Briefe; nur noch diesen einen:

Meine liebe Oma

Du hast Deinen Lauf vollendet.

Erst vor wenigen Wochen war Dein 92. Geburtstag. Gefeiert wurde wegen der aktuellen Lage nicht wirklich. Und Du hast es auch nicht mehr so recht verstanden, dass es Dein persönlicher Ehrentag ist. Ich habe Dir einen Geburtstagsgruß per Post zukommen lassen und diesen mit einige Bilder von Deinem letzten, wirklich großen Fest (88. Geburtstag) verschönert. Eigentlich war es ja ein Sippentreffen, das genau auf den Doppelgeburtstag von Dir und Deiner ältesten Schwester gelegt wurde. Es waren schöne Stunden, mit so vielen herzlichen Begegnungen, Brezelbackversuchen und Pizzen aus dem großen Brotbackofen. Ich erinnere mich sehr gerne daran.

Die zwei Geburtstagskinder: meine Oma (88) und ihre älteste Schwester (92)

Als wir im vergangenen Jahr in überschaubarer Runde Deinen Festtag gefeiert haben, hat wirklich niemand geahnt, was für ein besonderes Vorrecht es doch ist, wenn man sich einfach treffen und zusammen feiern kann. Eine Selbstverständlichkeit, die uns seit über einem Jahr verwehrt ist.

Wir waren ein bunt gemischter Haufen aus Kindern, Enkeln, Urenkeln, Schwager, Schwägerin…

Nun feierst Du mit Sicherheit das Wiedersehen mit all den Lieben, die Du in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schmerzlich vermisst hast; allen voran Deinen Ehemann und Deine Tochter. Sicher ist es ganz wunderbar und unbeschreiblich schön. Allein der Gedanke daran zaubert mir ein Lachen ins Gesicht.

92 Lebensjahre angefüllt mit so vielen Menschen und Erlebnissen. Du warst die Dritte und für lange Zeit die Mitte unter Deinen Geschwistern, bis Du mit 14 Jahren nochmals große Schwester und indirekt gleich zweite Mama wurdest.

Meine Oma steht ganz links

Durch die Ankunft der Schwester musste die geplante Ausbildung noch ein wenig warten. Außerdem erschwerten die letzten Kriegsjahre euren generell herausfordernden Alltag. Es war sicherlich nicht einfach, als Du dann die ersten Schritte in die Welt des Erwachsenwerdens gegangen bist und Deine Ausbildung zur Damenschneiderin in Stuttgart angetreten hast. Du hattest Freude an diesem Beruf, den Du später nur noch in Form eines Hobbies ausgeübt hast.

Ich erinnere mich noch gut an den Kellerraum, wo Deine Nähmaschine und jede Menge Stoffe lagerten. Deine große Schneiderschere ist mir in besonderer Weise im Gedächtnis geblieben, weil ich damit so gar nicht klar kam. Erst als ich begriff, dass es eine Linkshänder-Schere ist, passte das Ding tatsächlich auch in meine (linke) Hand.

Deinen Paul hast Du im Jugendbund (christliche Jugendgruppe) kennengelernt und im Sommer 1952 habt ihr geheiratet. Von da an warst Du nicht nur Ehe- sondern auch Geschäftsfrau. In eurem ersten Zuhause in Eltingen waren Laden und Wohnung sogar unter einem Dach. Ich selbst kenne das Haus nur von außen. Aber meine Mutter hat mir einige Geschichten erzählt, so dass in meinem Kopf vereinzelte Bilder verankert sind.

Meine Großeltern am Tag der Hochzeit meiner Eltern

Eure drei Kinder und die Verantwortung für den Lebensmittelladen waren für viele Jahrzehnte Deine Hauptaufgabe. Ich sehe Dich noch jetzt in deiner weißen Kittelschürze, wie Du hinter der Wurst- und Fleischtheke stehst und mit freundlichen Worten und einem Lächeln die Kunden bedienst. Ich war gerne bei euch im Laden, nicht nur wegen der verlockenden Süßigkeiten. Wenn ich an diesen Ort denke, verspüre ich in mir ein Gefühl von Zugehörigkeit und Heimat, denn es waren nicht nur vereinzelte Besuche, sondern auch regelmäßig Ferienzeiten, die ich bei Euch verbringen durfte.

Meine Eltern am Tag ihrer standesamtlichen Trauung vor dem Laden meiner Großeltern

In den vergangenen 17 Jahren sind zu Deinen 10 Enkelkindern noch 24 Urenkel dazugekommen. Tendenz steigend, denn meine jüngste Schwester ist aktuell hochschwanger und wir erwarten gespannt die Ankunft dieses neuen Erdenbürgers.

Die stolze, frischgebackene Oma mit mir… …und mit ihrer ersten Urenkelin (Nasya)

Rutesheim wird für mich immer der Ort Deiner Heimat sein, verknüpft mit vielen bunten Erinnerungen rund um Euer Haus, den großen Garten und den Laden. Die unzähligen Primeln, die Deinen Garten in ein Meer von zarten Farben getaucht haben. Die Hecken mit den weißen Schneebeeren, die unter uns Enkeln zu gewissen Jahreszeiten stets ausgiebige Wetthüpfaktionen ausgelöst haben, bis die Hofeinfahrt von zerplatzten Beeren marmoriert war. Die wohltuende Abkühlung an heißen Sommertagen, wenn ich meine Hände und Füße in den großen Brunnen vor Eurem Laden getaucht habe oder wenn ich für Dich oder Opa irgendetwas aus dem gut verriegelten Kühlraum holen durfte. Die alte Scheuer, in der es zwischen all den Spinnweben so viele, spannende Dinge zu entdecken gab. Das konstante Gurren der Tauben, die Eure Nachbarn gehalten haben.

Und es gibt noch weitere Dinge, die für mich vermutlich zeitlebens in direkter Verbindung mit Dir stehen werden. Der Käsekuchen – denn Deiner war einfach unschlagbar lecker und überall heiß begehrt. Aber auch Dein Marmorkuchen war der Beste überhaupt, und ich bin froh, dass ich Dich vor vielen Jahr schon um dieses Rezept gebeten habe. Bei uns ist dieser Kuchen seither der Liebling aller Familienmitglieder.

Und dann wären da noch die Kittelschürzen, bevorzugt in Weiß, und zwar nicht nur als offizielles Arbeitsoutfit im Laden. Für Dich waren Kittelschürzen quasi die zweite Haut; zumindest kam es mir als Kind so vor. Du hattest immer eine in Deiner Handtasche, wenn Du uns besuchen kamst. Und kaum warst Du da, hast Du die Schürze übergezogen und nach Arbeit Ausschau gehalten. Meine Mutter hat Dir das immer ein bisschen verübelt. Dabei war es glaub einfach Deine Art, wie Du Liebe und Fürsorge zum Ausdruck bringen wolltest, und keineswegs ein unterschwelliger Fingerzeig, dass meine Mutter ihren Alltag und Haushalt nicht im Griff haben würde.

Und noch eine weitere Leckerei aus dem Ofen muss ich in diesem Zusammenhang benennen, Deine großen Neujahrsbrezeln. Es gab sie nicht nur zum Neujahrstag, sondern meist auch an Weihnachten als Beigabe zum sonstigen Festmenü, oder auch mal bei Geburtstagen. Von diesen überdimensionierten, mürben Hefebrezeln konnte ich nie genug bekommen, weil sie einfach so lecker geschmeckt haben.

Meine Kinder waren in Anbetracht der vielzähligen Omas, die sie hier in Deutschland hatten, ein klein wenig überfordert. Und da Du ganz zuverlässig bei jedem Besuch – ganz gleich, ob Du zu uns kams oder wir bei Dir vorbeigeschaut haben -, Kekse im Gepäck hattest, wurde aus der Oma, die immer Kekse schenkt, kurzerhand die Keks-Oma. Eigentlich ein sehr treffender Name, denn schon zu meiner Kindheit hattest Du für Deinen Enkelkinder fast immer einen süßen Gruß aus dem Klappschrank im Wohnzimmer parat, wenn wir den Heimweg angetreten haben. Ich fand das großartig!

Die fünf Schwestern

Du warst keine Frau für ausschweifende Gespräche und auch keine Geschichtenerzählerin – zumindest habe ich Dich nicht so erlebt. Auch mit dem Schreiben hattest Du es nie so; genau wie meine Mutter. Dabei bin ich mir vollkommen sicher, dass es in Deinem Leben vieles gab, was absolut erzählenswert gewesen wäre. Die wenigen Begebenheiten, wo Du mir kleine Einblicke in Deine Kindheit gewährt hast, sind für mich deshalb umso wertvollere Schätze. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit für solche Momente gehabt, da ich sehr gerne viel mehr aus Deinem Leben erfahren hätte.

Zuerst war ich dafür zu jung, dann viel zu weit weg und als ich wieder in der Nähe war, hatte ich konstant alle Hände voll zu tun und leider kaum Zeit, was mich selbst immer wieder geschmerzt hat. Leider ging in den letzten 2-3 Jahren zunehmend mehr von der Frau verloren, die Du einst warst und für immer für mich sein wirst: meine fürsorgliche Oma.

Mein Herz ist voller Dankbarkeit und ich spüre in mir eine Liebe für Dich, die von Kindheit an stetig gewachsen ist. Danke, dass Du für mich da warst, dass Du mich geliebt und für mich gebetet hast. Danke für Deine Anteilnahme, Dein Mittragen und Mitsorgen. Danke für Deine Zugewandtheit und all die vielen Aufmerksamkeiten.

Ich liebe Dich!

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