Echt schon ein ganzes Jahr?

Nasya räumt den Esstisch ab und kommt mit weit aufgerissenen Augen aus der Küche. „Jetzt ist schon bald JUNI! Dann sind wir tatsächlich schon ein ganzes Jahr in Deutschland! Das kann doch gar nicht sein?!“

Oh, wie gut ich sie verstehen kann. Mir geht es nämlich ganz genauso. Wenn ich auf den Kalender schaue, dann überkommt mich exakt der gleiche Gedanke:

Kann es tatsächlich schon ein Jahr her sein? Ein GANZES JAHR?!

In den vergangenen Tagen sind meine Gedanken mal wieder vermehrt nach Sansibar abgeschweift. Ich habe im Alltag durchaus Zeit für solche Ausflüge, denn wenn ich mit Josia spiele oder ihm draußen hinterher jage – kommt beides mit großer Regelmäßigkeit vor – , dann ist dies nicht gerade auslastend für meinen Kopf. Und so habe ich mich an unseren Endspurt erinnert, die nicht enden wollende Haushaltsauflösung, das Packen und Verkaufen und natürlich all die vielen, ganz unterschiedlichen Abschiedsfeste – von denen ich die letzten ja auch erst kürzlich verbloggt habe.

Oh ja, all das ist durchaus schon lange her und in gewisser Weise auch sehr weit weg. Und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass wir schon seit fast einem Jahr in Deutschland sind. Wo sind die ganzen Monate denn bitte hin?

In meinen Gedanken habe ich schon etliche Male über das Thema „Ankommen“ und „Einleben“ geschrieben. Und ein bisschen was von diesem Gedankenwirrwarr hat es sogar bis in die Textform geschafft! Ich bin nämlich kürzlich in meinen Entwürfen über einen Eintrag zu diesem Thema gestolpert und habe ihn einfach mal unfertig veröffentlich und direkt verlinkt.

Außerdem kam da noch ein Gedicht zum Vorschein, dass ganz wunderbar zu diesem Thema passt. Auch das habe ich direkt veröffentlicht.

In den ersten Monaten war es für mich oft so, wie wenn wir auf Besuch in Deutschland wären. Ich dachte, dieses Empfinden legt sich im Lauf der Zeit von selbst. Nun ja, es ist seltener geworden, aber so wirklich ganz verschwunden ist es nicht. Deshalb fühle ich mich auch jetzt noch nicht so, als wäre das hier mein Zuhause.

Wir haben inzwischen zwar alle Geburtstage und sonstige Festlichkeiten, die innerhalb eines Jahres kommen und gehen, in Deutschland gefeiert und parallel dazu die unterschiedlichen Jahreszeiten erlebt, aber wurden wir dadurch automatisch auch heimisch?

Selbst in unserem Alltag habe ich weiterhin den Eindruck, dass alles sehr improvisiert ist und sich noch keine volle Routine eingestellt hat. Ich hinke in vielen Dingen extrem hinterher und dadurch wächst das Gefühl, überwiegend nur re-aktiv zu sein, und nicht der aktive Gestalter, der ich durchaus gerne sein würde.

Unser Zuhause befindet sich immer noch in einem Entstehungsprozess und es fehlt vor allem an den gewissen Kleinigkeiten, die aus einem Zimmer dann auch wirklich ein persönliches Zuhause machen. Selbst in der Küche falle ich ab und an in diverse Bestandslücken. In Sansibar hatte ich zu viele Trichter, hier bisher noch keinen einzigen. Und ein feines Sieb musste ich mir neulich von meiner Freundin leihen. Auf der anderen Seite genieße ich es aber auch, dass die Schränke nicht komplett überquellen.

Ich merke, dass es vor allem innerliche Entscheidungsprozesse sind, die ich gezielt angehen muss. Ich muss mich aktiv auf das Leben und die Menschen hier einlassen. Ich muss eine gewisse Eigeninitiative zeigen, um Kontakte und Beziehungen aufzubauen und dann auch zu pflegen. Das war auf Sansibar schließlich auch nicht anders – allerdings deutlich komplizierter aufgrund der sprachlichen und kulturellen Differenzen.

Da es für uns ein Zurückkommen und kein kompletter Neuanfang war, bestehen bestimmte Netzwerke bereits. Wir müssen uns z.B. keine neuen Ärzte suchen, was sehr angenehm ist. Wir wissen, wo man einkaufen kann und wie man von einer Stelle zur nächsten kommt. Ja, wir kennen auch die Schleichwege. Also mit wir meine ich uns Eltern; bei den Kindern muss sich diese innere Landkarte erst noch zur vollen Größe entwickeln.

Wenn man unterwegs ist, trifft man regelmäßig auf Leute, die man kennt. Wenn man sich gut kennt, dann hält man auch mal kurz inne und redet ein wenig. All das kommt vor – aber all das kam auch schon vor, als wir hier für einige Wochen oder Monate zu Besuch waren.

Solche Dinge tragen dazu bei, dass man sich an einem Platz vertraut und heimisch fühlt. Man kennt sich aus und man wird er-kannt! Aber ist das wirklich schon alles? Bin ich deshalb auch wirklich DAHEIM? Daheim mit meinem ganzen Wesen und in meinem Herzen?

Das Thema Heimat beschäftigt mich schon seit vielen Jahren. Vielleicht sogar schon seit dem Zeitpunkt, als ich meine Heimat vor über 10 Jahren erstmalig so richtig verlassen habe. Ich bin infolgedessen durch eine heftige Krise gegangen, da das Gefühl der Entwurzelung so krass und allumfassend war. Es hat sich schmerzhaft durch alle Lebensbereiche gezogen und ich wusste anfangs überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll und ob sich das jemals wieder legen würde. Vielleicht schreibe ich darüber irgendwann auch mal ein wenig ausführlicher…

Als wir noch auf Sansibar gelebt haben, aber schon fest stand, dass wir nun bald nach Deutschland ziehen werden, hat mich mal jemand gefragt: „War Sansibar denn jemals wirklich Heimat für dich?“

In den ersten Jahren hätte ich diese Frage ohne viel Nachdenken mit einem NEIN beantwortet. Aber dann…?

Wir haben uns auf jeden Fall eine Heimat geschaffen. Wir hatten ein Zuhause, in dem wir uns – die meiste Zeit zumindest – sehr wohl gefühlt haben. Wir haben Beziehungen aufgebaut und es sind Freundschaften entstanden; einige davon bestehen bis heute noch und wir schätzen das sehr!

Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, voll und ganz an diesem Platz Zuhause zu sein. Der Fakt, dass sich meine Sprachkenntnisse selbst nach vielen Jahren auf einem niedrigen Niveau befanden, hat vermutliche seinen Teil dazu beigetragen. Aber auch die grundlegenden Unterschiede in der Kultur und zeitweise mit Sicherheit auch die klimatischen Herausforderungen. Außerdem ist und bleibt man eben ein Ausländer; allein schon wegen der Hautfarbe! Diese Tatsache hat selbst mein Mann, bei dem die sprachliche sowie die kulturelle Hürde fast gänzlich außer Acht gelassen werden kann, immer wieder zu spüren bekommen.

Ein Gespräch mit einer Amerikanerin hat meine Gedanken diesbezüglich erneut in Schwung gebracht. Sie lebte zu jenem Zeitpunkt bereits über 15 Jahren in Afrika, allerdings erst gut ein Jahr auf Sansibar. Sie hat mir erzählt, dass sie fast 10 Jahre gebraucht hat, bis der Ort an dem sie gelebt und gearbeitet hat für sie zur Heimat geworden ist. Irgendwie entspannte mich diese Aussage und ich habe mich in besonderer Weise verstanden gefühlt.

Trotzdem gehe ich davon aus, dass selbst weitere fünf oder zehn Jahre auf Sansibar letztlich nicht dazu geführt hätten, dass ich diesen Platz aus vollem Herzen als meine Heimat bezeichnet hätte. Denn für mich fühlt es sich inzwischen so an, als würde es Heimat in der Form, wie ich sie vor meiner Ausreise nach Sansibar gekannt und empfunden habe, nicht mehr geben. Ich habe in den vergangenen Monaten deutlich gespürt, dass meine ehemalige Verwurzelung mit meiner früheren Heimat durch eine körperliche Rückkehr in diese nicht automatisch zurückkommt. Der Schnitt war zu tief und die Jahre im Ausland zu intensiv.

Ich schließe den Post mit einem Zitat von C.S. Lewis und setze damit einen Doppelpunkt, da ich weiß, dass dieses Thema irgendwann erneut hier auftauchen wird. Auf den ersten Blick scheint es vielleicht nicht passend zu sein. Aber meinem Gefühl nach drückt es sehr viel davon aus, was ich seit geraumer Zeit immer wieder ganz deutlich in mir wahrnehme – besonders, wenn es sich um das Thema Heimat dreht.

„Wenn wir in uns selbst ein Bedürfnis entdecken, das durch nichts in dieser Welt gestillt werden kann, dann können wir daraus schließen, dass wir für eine andere Welt erschaffen sind.“            C.S. Lewis

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