Heimgang

11 Jahre liegt der Tod meiner Mutter nun schon zurück. In den vergangenen Wochen musste ich wieder vermehrt an sie denken, wie meistens zu dieser Jahreszeit. Da kommen Erinnerungen hoch und ich spüre einfach, dass sie mir fehlt! Ja, immer wieder wird mir selbst nach all den Jahren und all der Gewöhnung an ein Leben ohne sie das Vermissen schmerzhaft bewusst. Und ich weiß, dass unser Leben heute in einigen Punkten anders aussehen würde, wenn sie noch bei uns wäre.

Manchmal macht es mich dann zum Beispiel sehr traurig, dass meine Kinder sie teils gar nicht kennen. Und selbst die Kinder, die sie noch kennengelernt haben, können sich an sie nur noch wage erinnern. Durch Afrika hatten die Kinder einfach viel zu wenig Zeit mit ihr, um bleibende Erinnerungen zu schaffen.

Es sind ganz unterschiedliche Momente, wo sie mir plötzlich fehlt. Manchmal ist da einfach dieser starke Wunsch, mich nun mit ihr zu unterhalten. Ich sehne mich so sehr danach, einfach mal wieder ihre Stimme und ihr herzhaftes Lachen zu hören. Ich würde mich gerne zu ihr an den gedeckten Tisch setzen und ihr Essen genießen. Sie konnte so gut kochen! Es wäre so schön, wenn sie Zeit mit meinen Kindern verbringen könnte. Und dann muss ich darüber nachdenken, dass sie inzwischen schon 13 Enkelkinder hat… getroffen hat sie davon aber nur meine vier Ältesten.

Als mich am frühen Morgen des 16. Dezembers über WhatsApp die Nachricht erreichte, dass die Patentante meiner Mutter friedlich eingeschlafen sei, hat mich das schmerzhaft getroffen. Keine Ahnung, ob es mich ähnlich intensiv betroffen gemacht hätte, wenn sie an einem anderen Tag als dem Todestag meiner Mutter gestorben wäre? Ich kann es nicht genau sagen.

Schon seit einigen Wochen ging es ihr nicht gut. Sie lag im Krankenhaus und nach einiger Zeit deutete manches darauf hin, dass sie in absehbarer Zeit vermutlich sterben würde. Sie war müde, erschöpft, schlief viel. Ich wage es zu behaupten, dass sie lebenssatt war und die Sehnsucht nach ihrer wahren Heimat zunehmend größer wurde. Sie sprach davon, dass sie nach Hause gehen möchte. Und ihren Kindern wurde bei dieser Aussage unmissverständlich klar, dass sie nicht von ihrem irdischen Zuhause spricht.

Nun ist sie angekommen. Heimgegangen.

Sie war meine Großtante und die Patin meiner Mutter. Da sie zeitlebens hier in Ditzingen gewohnt hat und zugleich ein aktiver Teil in der Gemeinde war, in der ich aufgewachsen bin, hatte ich zur ihr natürlich deutlich mehr Kontakt als zu den anderen Geschwistern meiner Oma.

Und dennoch, so wirklich gut kannte habe ich sie trotzdem nicht. Das liegt zum einen daran, dass wir nie unseren Alltag zusammen verbracht haben. Und dann natürlich an der Tatsache, dass sie mir einige Generationen voraus war. Aber ich habe viele wertvolle Erinnerungen an sie: gemeinsame Familientreffen, Geburtstagsfeste im Garten, Adventskaffees in unserer Gemeinde, Freizeiten und Ausflüge. Auch bei unserer Hochzeit war sie dabei. Hier das Bild aus unserem Gästebuch: in der Mitte meine Oma, umschlossen von zwei ihrer Schwestern.

Ich habe sie als eine starke, herzliche, liebevolle und sehr bemerkenswerte Frau erlebt. Ihr Wesen, ihr Lächeln – ja, irgendwie hatte sie stets ein herzerwärmendes Lächeln auf dem Gesicht -, und ihre Stimme haben sich tief in meine Erinnerung gegraben. Ihre Stimme war wirklich besonders und einmalig.

Diese Generation von Frauen hat viel durchlebt und ihre Lebensgeschichten zeigen unmissverständlich, dass sie es oft nicht leicht hatten. Der zweite Weltkrieg war ein wesentlicher, nicht gerade kleiner Teil ihrer Kinder- bzw. Jugendjahre. Sie haben recht früh ihren Vater verloren. Ihr ganzes Leben war von Kindheit an von harter Arbeit geprägt. Aber sie haben diese vielseitigen Aufgaben mit einer bemerkenswerten Zufriedenheit und unglaublichen Ausdauer bewältigt. Soweit ich das von meinem Blick auf die Sache zumindest sagen kann. Sie haben Kinder großgezogen, während sie mit großer Verantwortung und mehr als vollzeitig im eigenen Geschäft eingebunden waren. Und leider haben zwei bereits in ihren Sechzigern den Ehepartner verloren. Die letzten beiden Punkte beziehen sich auf meine Oma und die Patentante meiner Mutter.

Am Montagnachmittag fand die Beerdigung statt, einen Tag früher als damals bei meiner Mutter. Es war nicht ganz so kalt wie vor 11 Jahren. Und obwohl wir die gesamte Zeit draußen stehen mussten – in der kleinen Kirche war unter den aktuellen Auflagen natürlich nur für sehr wenig Leute Platz – ließ es sich relativ gut aushalten. Die Trauerfeier war unter den besonderen Umständen trotzdem schön und sehr berührend. Unser ehemaliger Gemeinschaftsleiter Eberhard Silber hat die komplette Feier gehalten, mit Ausnahme des Nachrufs von der Süddeutschen Gemeinschaft Ditzingen, wo meine Großtante seit ihrer Kindheit Teil davon war.

Singen ist momentan untersagt, und so hat er auch diesen Teil ganz alleine übernommen, begleitet vom Klavier – oder wars doch die Orgel? Ach, ich kann es nicht mehr genau sagen. Es waren drei Lieder, eins davon kannte ich nur vage. Er hat das sehr souverän und wirklich gut gemacht. Und dabei ist er glaub auch schon über 80 Jahre alt inzwischen.

Kondolieren ging wegen Corona auch nicht. Aber wir waren am Grab und haben mit viel Abstand nach und nach Abschied genommen. Ich hatte vorab einen kurzen, schriftlichen Gruß für ihre fünf Kinder (Cousinen und Cousins meiner Mutter) und deren Familien verfasst und musste somit nur den Briefumschlag weitergeben.

Meine Oma ist nun die Letzte der einst sechs Geschwister. Leider konnte sie wegen der Corona-Auflagen nicht an der Beerdigung teilnehmen. Sie hätte sonst für 14 Tage in ihrem Zimmer Quarantäne hätte halten müssen. Das wäre absolut zu viel für sie gewesen, da sie dadurch mit Sicherheit nur noch mehr vereinsamt und verwirrt worden wäre. Es ist traurig und sehr bedauerlich. Aber vermutlich wäre die Beerdigung selbst schon zu viel für sie gewesen. Und es gab auch keine anschließende Feier, wo man dann noch in Ruhe hätte beisammen sein und Gemeinschaft hätte haben können. Ich werde ihr beim nächsten Besuch wenigsten ein paar Bilder vom Grab ihrer Schwester mitbringen. Solche Dinge sind ihr nämlich ziemlich wichtig. Aber es ist schwer abzuschätzen, wie viel sie davon tatsächlich noch verinnerlicht und versteht.

Auch ich war nicht bei allen Beerdigungen dabei. Der einzige Bruder meiner Oma ist schon vor Jahrzehnten verstorben; nach längerer Krankheitszeit. Ich meine, dass ich damals nicht bei der Beerdigung war, weil ich einfach noch sehr jung war. Ich habe auch nur noch sehr vage Erinnerungen an diesen Großonkel.

Von den fünf Schwestern ist die zweitälteste als erste verstorbene. Sie hatte ein langes und erfülltes Leben, als sie vor über sieben Jahren Zuhause sterben durfte. Und dann kam der unerwartete Tod der jüngsten Schwester, die mit Anfang Siebzig Ende Dezember ´16 ihrem kurzen und schweren Krebsleiden erlegen ist. Ihr Tod hat mich damals sehr betroffen gemacht. Nur wenige Wochen davor konnte ich sie noch besuchen, was wirklich schön war und mich bis heute mit Dank erfüllt. Zu ihr hatte ich etwas mehr Kontakt, da ihre Kinder zu meiner Generation zählen und ich dadurch mache Ferien in ihrer Großfamilie verbringen konnte.

Im September 2019 wurde die älteste Schwester beerdigt. Es war eine besondere Feier, da sie Diakonisse war. Während des Gottesdienstes kam ich mir phasenweise so vor, als wäre ich bei Sister Act gelandet. Genau wie die Trauerfeier der jüngsten Schwester habe ich diesen Tag in wertvoller Erinnerung und denke gerne daran zurück. Beide Feiern waren umrahmt war von vielen Erzählungen und Bildern, und sowas berührt mich sehr. Und genau dieser Teil blieb bei der Beerdigung meiner letzten Großtante mütterlicherseits aufgrund der speziellen Umstände nun leider aus.

Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, so wunderbare und großartige Frauen als Vorfahren zu haben. Ihre beeindruckende Ausdauer, ihr tiefer Glaube und ihre mutige Art, sich dem Leben mit all seinen Herausforderungen zu stellen, sind mir Vorbild und Schatz zugleich. Auch wenn ich es nicht sehen kann, so wächst in mir die Gewissheit, dass ihre treuen Gebete wie breite Flüsse waren, die das Leben vieler Menschen segensreich beeinflusst haben,… so auch das meine.

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